Der Brief aus Dresden: Als die Systematik die Ausnahme fraß

Dresden, April 2028 – Die Landesregierung in Sachsen, geführt von einer Koalition, die ihre Machtbasis auf der sogenannten „Remigrations-Charta“ aufgebaut hat, hat ihre ersten, umfassenden Gesetze zur „Rückführung und ethnokulturellen Konsolidierung“ verabschiedet. Das Gesetz definiert einen „Nicht-assimilierten“ als jemanden, bei dem eine deutsche Staatsbürgerschaft vor 2000 fehlt und dessen kulturelle Prägung als nicht-europäisch eingestuft wird.

Michael Berger, langjähriges Mitglied und engagierter Wahlkampfhelfer der dominanten Regierungspartei, feiert das Gesetz. Es sei ein notwendiger Schritt, um das „Volk wieder zu einen“. Er selbst sei natürlich sicher, seine Familie sei „hundertprozentig deutsch“.

Der Schock kommt nicht vom Staatsschutz, sondern vom Amt für ethnokulturelle Prüfung. Berger erhält einen offiziellen Bescheid, adressiert an seine Frau Amira, die er vor 15 Jahren in Leipzig geheiratet hat. Ihre Eltern kamen in den 1970er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. Amira besitzt einen deutschen Pass, hat die Sprache perfektioniert, arbeitet als Krankenpflegerin und hat zwei Kinder mit Berger.

Der Bescheid ist emotionslos: Obwohl Amira formal deutsche Staatsbürgerin ist, erfüllt sie nach der neuen „Blutlinien-Klausel“ die Kriterien der „Nicht-assimilierten“ und wird aufgefordert, sich auf eine „freiwillige Rückführung“ vorzubereiten.

Michael Berger ist fassungslos. Er stürmt zur lokalen Parteizentrale und verlangt eine Ausnahme. Er verweist auf seine Loyalität, seine Kinder, seinen fleißigen Dienst für die Partei. Er fordert, dass seine Frau als „Ehren-Assimilierte“ anerkannt wird.

Die Antwort des lokalen Parteisekretärs ist kalt und systemisch: „Michael, es tut mir leid. Das Gesetz ist das Gesetz. Wir können nicht für jeden Einzelfall eine Ausnahme machen. Das System muss funktionieren. Die Regel ist wichtiger als deine individuelle Loyalität.“

In diesem Moment, als Berger erkennt, dass die Systematik, die er selbst implementiert hat, seinen persönlichen Lebensentwurf zerstört, zerbricht seine naive Überzeugung. Er hatte an die Ausnahme durch Gnade geglaubt; das Regime liefert ihm die Regel durch Härte.


Für die Doofen

Diese Geschichte beleuchtet die erschreckende Parallele zwischen dem Gnaden-Appell in totalitären Regimen und der kalten Logik der Ideologie.

  1. Der Glaube an die Ausnahme: Der Mensch neigt dazu, sich selbst und seinen unmittelbaren Kreis als Ausnahme zu betrachten. Im Nationalsozialismus (NS) gab es zahllose Fälle von „Mischlingen“ oder Partnern von Juden, die versuchten, über persönliche Bittschreiben an Hitler (Gnadengesuche) oder andere NS-Größen eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken. Das zentrale Argument war nie: „Eure Gesetze sind unmenschlich“, sondern: „Ich bin die Ausnahme, weil ich (oder mein Partner) loyal, fleißig, gut angepasst sind.“
  2. Die kalte Logik der Ideologie: Ideologie funktioniert nur, wenn sie systematisch angewandt wird. Sobald ein Gesetz auf „Rasse“ oder „ethnische Reinheit“ basiert (wie die Nürnberger Gesetze oder das fiktive „Remigrationsgesetz“), darf es keine persönlichen Ausnahmen geben. Jede Gnade für einen loyalen Anhänger (wie den fiktiven Michael Berger) würde die ideologische Grundlage des Gesetzes (die Reinheit des Volkes) sofort untergraben.
  3. Die AfD-Remigration als Systematik: Das Konzept der „Remigration“ der AfD basiert auf der Idee einer ethnisch-kulturellen Neudefinition des Staatsvolkes. Wie im NS wird der deutsche Pass wertlos, wenn er nicht von der richtigen Herkunft begleitet wird. Wer für ein solches System stimmt, stimmt für die Regel, die jeden treffen kann, der nicht zu 100 % in das rigide Schema passt. Der Moment der Erkenntnis ist der, in dem der Unterstützer merkt: Ich bin nicht das System, ich bin nur der nächste Fall, der abgearbeitet wird.

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