Gewalt, Erinnerung und Gegenwart

Warum der Vergleich mit Weimar nicht beruhigen darf


Es gibt historische Vergleiche, die weniger über das Gestern als über das Heute erzählen. Wenn wir über politische Gewalt in Deutschland sprechen – über Angriffe auf Politikerinnen, über antisemitische Schmierereien, über die neue Selbstverständlichkeit von Hass – führt der Blick oft zurück in die Weimarer Republik. Und dieser Blick ist berechtigt. Denn wer die Zahlen kennt, erkennt sofort die Abgründe – und zugleich, wie trügerisch beruhigend Distanz sein kann.

Zwischen 1919 und 1922 zählte der Statistiker und Publizist Emil Julius Gumbel in seiner Studie Vier Jahre politischer Mord exakt 376 politische Tötungen. 354 davon begingen Täter aus dem rechten Lager, 22 aus dem linken – ein Verhältnis, das selbst ein Jahrhundert später noch erschüttert. Gumbel dokumentierte auch die Reaktion des Staates: Während rechte Mörder in der Regel mit milden Urteilen oder gar Freisprüchen davonkamen, wurden linke Täter mit größter Härte bestraft – zehn von ihnen sogar mit dem Tod. Die Weimarer Republik war also nicht nur eine von Gewalt zerrissene Gesellschaft, sondern eine, in der die Justiz selbst Teil der politischen Auseinandersetzung war. Historikerinnen und Historiker sehen darin bis heute eine der Ursachen für den moralischen und institutionellen Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie.¹

Die Gewalt jener Jahre kam aus der Mitte der Gesellschaft. Sie richtete sich gegen das Neue, gegen die Republik, gegen das Versprechen von Gleichheit. Am 1. Mai 1924 – so berichten zeitgenössische Quellen – kam es bei Arbeiterdemonstrationen in Berlin erneut zu tödlicher Polizeigewalt. Und fünf Jahre später, beim sogenannten „Blutmai“ 1929, schoss die Polizei mit Maschinengewehren auf Demonstrierende, gab über 11.000 Schuss ab, mehr als dreißig Menschen starben, viele von ihnen in ihren Wohnungen.² Es war der Staat selbst, der Gewalt nicht nur duldete, sondern ausübte. In den Gesichtern dieser Jahre lag der Schatten eines kommenden Totalitarismus.

Hundert Jahre später leben wir in einem anderen Land. Die Zahl politisch motivierter Tötungsdelikte liegt heute zwischen fünf und zwölf pro Jahr, fast ausschließlich mit rechtsextremem Hintergrund; linksextreme politische Morde sind seit Jahren nicht nachweisbar.³ Bei insgesamt rund 700 Tötungsdelikten jährlich in Deutschland sind politische Motive statistisch kaum sichtbar. Und doch: Die Zahlen erzählen nicht alles. Denn Gewalt beginnt lange bevor jemand stirbt – mit Worten, mit Verachtung, mit der Normalisierung des Hasses.

Die heutige Gewalt hat ein anderes Gesicht. Sie ist diffuser, digitaler, aber ideologisch vertraut. Rechtsextreme Netzwerke bedrohen Lokalpolitiker, sie hetzen online, sie rüsten sich. Antisemitische Straftaten haben seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Hamas-Angriffs auf Israel, drastisch zugenommen.⁴ Synagogen werden wieder bewacht, jüdische Kinder tragen seltener ihre Kippa auf dem Schulweg, Familien entfernen hebräische Namen von Klingelschildern. Es ist, als habe sich ein Schleier des Misstrauens über die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens gelegt. Die Täter kommen aus unterschiedlichen Milieus – rechtsextrem, islamistisch, teils aus dem linken Antizionismus – doch ihre Sprache ist dieselbe: die Entmenschlichung.

Und es gibt eine andere Form der Gewalt, die oft übersehen wird, obwohl sie ähnlich ideologisch verwurzelt ist: Femizide. Die Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind, wird juristisch selten als „politisch motiviert“ geführt, ist aber gesellschaftlich hochpolitisch. Feministische Forscherinnen weisen seit Jahren darauf hin, dass diese Morde Ausdruck eines autoritären, patriarchalen Weltbildes sind – eines Denkens, das Besitz über Gleichwertigkeit stellt. Wer über Gewalt in einer Demokratie spricht, darf diese alltägliche, leise Form der Unterdrückung nicht ausklammern.

Natürlich: Der heutige Staat ist nicht Weimar. Die Bundesrepublik ist rechtsstaatlich organisiert, die Justiz unabhängig, die Polizei rechenschaftspflichtig. Aber auch hier gilt: Strukturen garantieren keine Haltung. Gumbel sprach 1924 von einer Justiz, die „auf dem rechten Auge blind“ sei. Heute ist das System formal sehend, doch gesellschaftlich bleibt diese Blindheit virulent – sie zeigt sich in Relativierungen, in müder Empörung, in der Bequemlichkeit, Hass für Meinung zu halten.

Die Weimarer Gewalt war physisch, offen, tödlich. Die Gewalt der Gegenwart ist selten, aber ideologisch zäh. Sie zersetzt von innen, schleichend, algorithmisch verstärkt. Demokratien, das lehrt die Geschichte, gehen nicht in einem Moment unter – sie erodieren leise, während man sich an das Rauen gewöhnt.

Heute sind wir stabiler, sicherer, wachsamer. Aber Stabilität ist kein Zustand, sie ist eine tägliche Übung. Der Vergleich mit Weimar soll uns nicht beruhigen, sondern wachhalten. Denn die Geschichte endet nicht mit dem Satz: „Damals war es schlimmer.“
Sie beginnt jedes Mal neu, wenn jemand sagt: „So weit wird es schon nicht kommen.“


¹ Vgl. Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922; zur Bewertung siehe etwa Bundeszentrale für politische Bildung, „Politische Gewalt in der Weimarer Republik“ (bpb.de).
² Zum „Blutmai“ 1929 siehe The Historical Journal, Cambridge University Press, 2019, sowie The Berliner, 2023.
³ Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) und BKA-Lagebild „Politisch motivierte Kriminalität“, 2024.
⁴ Siehe Berichte von Zentralrat der Juden in Deutschland, BMI und Verfassungsschutzberichte 2023/24.


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