Ein fiktives Szenario zur vollständigen Einbeziehung hoher Einkommen in das deutsche Sozialversicherungssystem.
In der öffentlichen Debatte über Sozialausgaben in Deutschland fällt ein Muster immer wieder auf: Wenn über die Finanzierung sozialer Leistungen gesprochen wird, richtet sich der Fokus oft auf die unteren Einkommensschichten. Bürgergeld, Grundsicherung oder Wohngeld werden in Medien und politischen Diskussionen als erste „Kostentreiber“ identifiziert. Dabei zeigt eine nüchterne Betrachtung, dass der weitaus größere Teil der sogenannten Sozialausgaben in Formen fließt, die nicht bedarfsorientiert sind – etwa Rentenzuschüsse, Kindergeld oder Zuschüsse zur Krankenversicherung.
Nach aktuellen Zahlen beträgt der Bundeshaushalt 2024 etwa 476,8 Milliarden Euro, davon fließen rund 218,3 Milliarden Euro in den Bereich „Soziale Sicherung, Familie, Jugend“. Streng bedarfsorientierte Leistungen, die direkt armen oder bedürftigen Menschen zugutekommen – Bürgergeld, Grundsicherung im Alter oder Wohngeld – summieren sich nur auf etwa 55 Milliarden Euro. Der Großteil, etwa 160 Milliarden Euro, entfällt auf universelle Transferleistungen oder auf Zuschüsse zur Sozialversicherung, die unabhängig vom Einkommen gezahlt werden.
Ein prominentes Beispiel sind Kindergeld und Elterngeld. Während Kindergeld in Höhe von rund 50 Milliarden Euro jährlich allen Eltern zusteht, wird es bei Geringverdienern auf Bürgergeld angerechnet, bei wohlhabenden Familien jedoch zusätzlich gezahlt. Ähnlich verlief die Debatte um das Elterngeld: Ursprünglich wurde vorgeschlagen, die Einkommensgrenze auf 150.000 Euro zu senken, um 500 Millionen Euro einzusparen. Beschlossen wurde ein gestufter Abbau: Ab April 2024 sinkt die Einkommensgrenze von 300.000 auf 200.000 Euro, ab April 2025 auf 175.000 Euro. Erwartete Einsparungen: 2024 150 Millionen Euro, 2025 400 Millionen Euro, ab 2026 rund 500 Millionen Euro jährlich – ein im Vergleich zur Gesamtgröße der Sozialausgaben äußerst bescheidener Effekt.
Doch was wäre, wenn man das Prinzip konsequent zu Ende denkt? Was, wenn alle hohen Einkommen vollständig an den Sozialausgaben beteiligt würden, ohne Beitragsbemessungsgrenzen? In der Realität gibt es für die Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung Obergrenzen, die selbst Millionäre davon befreien, proportional zu zahlen. So liegt der maximale monatliche Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung bei rund 793 Euro, unabhängig davon, ob das Einkommen 5.000 oder 50.000 Euro monatlich beträgt.
Im fiktiven Szenario nehmen wir an, dass alle oberen Einkommen, insbesondere die Top 1 Prozent der Einkommensbezieher mit einem Gesamteinkommen von etwa 500 Milliarden Euro jährlich, voll sozialversicherungspflichtig wären. Ohne Obergrenzen würden die Beiträge proportional zum Einkommen steigen: 19 Prozent für Kranken- und Pflegeversicherung, 18,6 Prozent für die Rentenversicherung, 2,6 Prozent für Arbeitslosenversicherung.
Die theoretischen Einnahmen daraus wären beeindruckend: 95 Milliarden Euro durch Kranken- und Pflegeversicherung, 93 Milliarden Euro durch Rentenversicherung, 13 Milliarden Euro durch Arbeitslosenversicherung – insgesamt rund 201 Milliarden Euro pro Jahr. Zum Vergleich: Streng bedarfsorientierte Sozialleistungen für die unteren Einkommensschichten belaufen sich auf etwa 55 Milliarden Euro jährlich. Mit anderen Worten: Die vollständige Beteiligung der oberen Einkommen könnte nicht nur die Finanzierung von Bürgergeld und Grundsicherung sichern, sondern theoretisch eine mehr als dreifache Absicherung ermöglichen.
Natürlich ist ein solches Szenario politisch kaum realistisch. Eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen würde vermutlich Widerstand bei den Spitzenverdienern hervorrufen, könnte Steuerflucht oder Umgehungsstrategien fördern und müsste international abgestimmt werden, da Kapitalmobilität hoch ist. Zudem ist die Sozialversicherung nur teilweise beitragsfinanziert; andere Leistungen laufen steuerfinanziert, sodass zusätzliche Beiträge nicht alle Finanzierungslücken schließen würden.
Dennoch verdeutlicht das Szenario die Schieflage der öffentlichen Wahrnehmung. Wenn über „unbezahlbare Sozialausgaben“ diskutiert wird, richtet sich der Reflex auf die bedürftigsten Bürger – oft dargestellt mit 700 Euro Durchschnittseinkommen pro Monat inklusive Wohngeld – während der Großteil der Mittel in universelle Transferleistungen oder in Systeme fließt, die von allen Einkommensschichten getragen werden. Die Debatte über Einsparungen in Millionenhöhe, wie beim Elterngeld, erscheint im Vergleich zu den möglichen Einnahmen aus der vollständigen Beteiligung hoher Einkommen nahezu symbolisch.
Das Szenario zeigt auch, dass „reich“ nicht gleich „reich“ ist: Nicht jeder obere Einkommensbezieher trägt derzeit proportional zu seinen Mitteln bei. Einige zahlen nur den Maximalbeitrag, während andere in der Realität durch Steuervergünstigungen und Zuschüsse zusätzliche Vorteile erhalten. Das fiktive Modell verdeutlicht die Möglichkeit, die Last gerechter zu verteilen und die Debatte über Sozialausgaben auf eine realistischere Basis zu stellen.
Abschließend lässt sich festhalten: Sozialausgaben sind ein vielschichtiges System, das sowohl bedarfsorientierte als auch universelle Leistungen umfasst. Ein großer Teil der öffentlichen Diskussion konzentriert sich auf den bedürftigkeitsgeprüften Teil, obwohl dieser nur einen Bruchteil der Gesamtausgaben ausmacht. Das fiktive Szenario, in dem alle hohen Einkommen proportional an der Finanzierung beteiligt wären, zeigt eindrücklich, dass die Frage nach „bezahlbaren Sozialausgaben“ weniger eine Frage der Gesamtlast, sondern der Verteilung der Lasten ist.
Solidarität oder Selbstbedienung?
Das Szenario illustriert die Möglichkeit, durch eine gerechtere Beteiligung wohlhabender Bürger das soziale Sicherungssystem langfristig stabil zu finanzieren. Es verdeutlicht die politische Diskrepanz zwischen wahrgenommenem Kostendruck bei Bedürftigen und der realen Finanzstruktur der Sozialausgaben, bei der ein Großteil der Mittel ohnehin an breite Bevölkerungsschichten oder universelle Leistungen geht.